Mütter als Gesundheitsexperten

Es ist ca. 10:00 Uhr vormittags und ich sitze in einem Wiener Caféhaus um wieder einen genialen Blogbeitrag zum Thema Comedy zu schreiben. Aber ich komme nicht dazu. Ich bin abgelenkt. Von einem faszinierenden Gespräch am Nachbartisch. Ja, ich lausche, aber es lässt sich nicht vermeiden. Es wird zu laut gesprochen und das Thema ist auch faszinierend. Am Nebentisch haben drei Frauen im Alter von ca. 35 – 45 Jahren Platz genommen. Offenbar wurden die Kinder im Kindergarten abgeliefert und die Damen wollten sich von dieser Strapaze erholen. Dabei begann ein Gespräch, das ich in dieser Form schon genauso und ähnlich oft gehört habe – bei Gesprächen meiner Frau mit Freundinnen (wobei meine Frau meist nur erstaunte Zuhörerin ist), die sie besucht haben.

Nachdem ich die Damen nicht kenne, benenne ich sie einfach nach ihrer Haarfarbe. Bitte, dass ist nicht sexistisch gemeint, es ist nur einfach und daher typisch männlich. So ungefähr ging der Dialog los.

Schulmedizin ist der Beelzebub

»…da hast du recht. Die Schulmedizin ist ein Wahnsinn.«, erklärt Rotschopf bestimmt. »Alles nur Fachidioten, an Betrug grenzend um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. In Ecuador gibt es ein Dschungelvolk, dass seit Jahrhunderten mit Naturmedizin lebt und dort sind alle gesund.«

Ich denke mir: Könnte vielleicht daran liegen, dass Krankheit in diesen Lebensumständen (tiefer Dschungel, Giftschlangen, Raubtiere, feindliche Urvölker mit Giftpfeilen, etc.) automatisch zum Tod führt. Deshalb gibt es dort keine Kranke. Die sind alle tot. Obwohl alle diese Naturvölker so geniale Mediziner sind, liegt ihre durchschnittlich Lebenserwartung noch immer unter der von Libanesen in den besetzten Gebieten Westjordanland. Mich hat immer fasziniert, dass in Dokus darüber nie kranke Stammesmitglieder der Naturvölker zu sehen sind. Wo sind die? Gibt es da ein geheimes Dschungel-Pflegeheim, dass wir nie zu Gesicht bekommen? Für mich genauso unerklärlich wie die Frage, wo in der Stadt die ganzen Tauben und Spatzen zum Sterben hingehen?

Lasst uns in den Dschungel ziehen

»Ich hab da auch was gelesen. Die haben ein viel besseres Gespür für den Umgang mit dem menschlichen Körper und dem Leben an sich, diese Naturvölker.«, ergänzt Blondschof den Rotschopf enthusiastisch. »Das wird nur alles vom gesundheitskapitalistischen Establishment vor der Öffentlichkeit bei uns verborgen.«

Ist das so? Gibt es irgendwo auf der Welt geheime Paradiese in denen Krankheiten ausgerottet sind und alle Unfälle geheilt werden? Und lässt man uns hier in Westeuropa nur deswegen dahinsiechen um den Ärzte- und Pharmaindustriekomplex zu schützen? Ich frage mich, warum Blondschopf zur Entbindung ihres Kindes nicht in den Dschungel nach Ecuador gegangen ist? Wäre sicher konsequent und so viel gesünder und natürlicher als ein steriler Entbindungsraum in einem Krankenhaus mit echten Hebammen, Ärzten, fließendem Wasser einem Dach überm Kopf, funktionierendem Handyempfang (wegen den Facebook-Bildern) und Notfallinfrastruktur. Oder noch besser, wie wäre es mit einer Lehmhütte in der zentralafrikanischen Republik? Das wäre doch konsequent? Trotz aller Geheimkenntnisse der Medizin und des menschlichen Körpers in all diesen entlegenen Orten auf dieser Welt schicken wir ÄrztInnen, medizinische Hilfe, ganze Spitäler und großartige Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen um dort zu helfen. Warum und wozu? Der Theorie meiner Cafe-Haus-Mütter nach müssten wir doch längst hoffen und betteln, dass endlich Schamanen ohne Grenzen oder Naturheiler International von dort zu uns zur Hilfe kommt. Wie gesund und alt könnten wir alle werden, hätten wir das Know-how und die medizinischen Fähigkeiten?

Aber halt, da springt die Dritte im Bunde, ich nenne sie mal Strähnchenschopf, ein: »Wir haben da ja einen Heiler im Waldviertel. Der hat mir total die Augen für die Heilkräfte der Natur geöffnet«, erzählt sie stolz. »Ich habe ja immer diese Knieschmerzen gehabt und der hat auch heilende Hände. Die legt er auf, dann wird es ganz heiß und der Schmerz ist weg. Also, mindestens zwei Tage.« Die Information über die Wunderheilung ruft bei den anderen Damen uneingeschränkte Bewunderin, Zustimmung und Argumente wie: »Hab ich mir eh schon immer gedacht!« hervor.

Wunderwaffe Globuli-Kügelchen

Ich kann sie auch schon sehen, Strähnchenschopf, wie sie zu ihrem Sohn auf der Skipiste eilt, der gerade einen einfachen Rückwärtssalto versucht hat aber gescheitert ist. Da liegt er nun mit offenem Schienbeinbruch. Die Bergretter sind mit dem Akja schon da, aber plötzlich kommt die einzig wahre Rettung. Strähnchenschopf eilt heran und ruft: »Aus dem Weg! Ich habe hier eine Kräutermischung aus Schneeglöckchen, Löwenzahn und Kleeblättern. Ich muss sie nur aufstreichen und alles wird gut. Und sollte das nicht helfen habe ich noch das größte Wundermittel aller Zeiten: Globuli-Kügelchen!«

Aus lauter Faszination mit dem Dialog am Nebentisch habe ich jetzt gar nicht meinen Blogbeitrag geschrieben. Ich habe Kopfschmerzen. Ich bin ein Risiko-Typ, Mann und nicht bei Trost. Ich nehme jetzt einfach mal ein Mexalen.