Gedanken lesenWir alle haben Vorlieben, Erlebnisse und Gedanken, bei denen wir glauben, dass sie ganz persönlich sind und wir sie eigentlich nicht mit anderen teilen. Für uns sind es individuelle Vorlieben, die nur uns betreffen – die unter anderen ausmachen, was für ein Mensch und was für eine Persönlichkeit wir sind. Subjektiv stimmt das auch, dass viele diese Erfahrungen auf eine sehr persönliche und individuelle Art gemacht werden, aber die meisten anderen Menschen machen die selben Erfahrungen auch. Nur eben wieder auf ihre persönliche Art und Weise. So werden diese Erfahrungen zu Gemeinschaftserfahrungen, die die große Mehrheit von uns macht – vor allem wenn Menschen einen ähnlichen sozialen und demographischen Hintergrund haben – aber bei denen jeder einzelne das Gefühl hat persönlich einzigartig zu erfahren.

Genau diese Erfahrungen sind für Comedians, aber auch RednerInnen, ungeheuer wertvoll. Das Wissen um diese Erfahrungen und gekonnte Nutzen derselben, lässt das Publikum oft verblüfft und erstaunt zurück. Wahrsager, spirituelle Berater, Schicksalsforscher, etc. nutzen diese Erfahrungen und verblüffen ihre Kunden mit einer Technik, die unter Profis als Cold Reading bekannt ist. Es ist die Fähigkeit aus ganz allgemeinen Aussagen scheinbar sehr persönliche und individuelle Erlebnisse zu konstruieren. Für das Publikum können sie scheinbar Gedanken lesen.

Werde zum Gedankenleser

Wie funktioniert das? Eigentlich ganz einfach. Nehmen wir als Beispiel das erste Date zwischen Thomas und Eva. Die Szene spielt sich vor ein wenig mehr als zwei Jahren, als das Buch und der Film Eat, Pray, Love bei Menschen um die 30 in aller Munde war. Der schlaue Thomas erwähnt ganz beiläufig, dass er sich den Film unbedingt noch gerne ansehen möchte, weil er so viel darüber gehört hat. Klug formuliert, denn er gibt keine Wertung über den Film ab. »Ich auch«, reagiert Eva. Und von da an kann Thomas den Abend erfolgreich gestalten. Offensichtlich ist der Film auch in Evas Bekanntenkreis ein Thema, was wiederum Rückschlüsse auf den sozialen Background ihrer FreundInnen schließen lässt. Wenn sich Eva mit der Roman und Filmheldin ein wenig identifiziert, was sich im Gespräch schnell herausfinden lässt, dann kann Thomas davon ausgehen, dass Eva gerne reist, den richtigen Mann noch nicht getroffen hat, ein wenig auf der Suche ist, wahrscheinlich endlich einmal aus ihrem derzeitigen Leben ausbrechen will um einen schon lange gehegten Traum umzusetzen (zu schreiben, eine Weltreise..). Wenn Thomas geschickt fragt und die Information wieder mit eigenen Vermutungen und scheinbaren Erkenntnissen über Evas Persönlichkeit an sie zurück füttert, dann wird sie schnell positiv überrascht sein. Thomas wir wohl Sätze wie: »Du hast eine tolle Menschenkenntnis.« oder »Selten hat mich jemand so schnell so gut verstanden.«, etc. hören.

Was den Moment für Eva so außergewöhnlich macht, ist das Gefühl, dass hier ein Mensch, den sie gerade erst kennen gelernt hat, scheinbar so viel über sie weiß. Sie hat mit Thomas eine emotionale Verbindung und beide teilen sehr persönliche Vorlieben und Gedanken. Er konnte fast ihre Gedanken lesen. Alles aufgrund der großen Wahrscheinlichkeit, dass die viele Menschen im vergleichbaren Alter und sozialem Status damals vor zwei Jahren vom Buch und Film Eat, Pray, Love gewusst und ihn gekannt haben.

Cold Reading für RednerInnen und Comedians

Eine Rede halten oder ein Comedy-Set zu spielen ist in vielen kleinen Aspekten ähnlich wie ein erstes Date. Man versucht einen guten Eindruck zu machen und gemeinsame Interessen zu finden. Im Prinzip ist es auch wie Cold Reading. Man geht von einem allgemein bekannten Thema oder einer gemeinsamen Erfahrung aus und arbeitet sich dann ins Detail weiter.

Zum Beispiel: Die große Mehrheit von Menschen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren hat als Kind Urlaubsreisen mit den Eltern gemacht und dabei ähnliche Erfahrungen gemacht. Autofahrten, Stress, Streit mit Geschwistern. Allein der Satz: »Mein Gott damals, als wir mit dem kackgelben Volvo-Kombi vom Vater um 4:00 Uhr morgens von zu Hause Richtung italienische Adria aufgebrochen sind…« wird im Publikum Reaktionen auslösen. Und wenn viele von denen zustimmend und lachend sind, dann kann man getrost in weitere grausame Details einer solchen stundenlangen Autofahrt gehen und alle werden diese auf ihre persönliche Art nachvollziehen können. Und schon hat man eine gemeinsame emotionale Bindung mit dem Publikum geschafft. Die Besten im Geschäft, spüren ob das Thema auf Resonanz trifft, und wenn nicht, sind flexibel genug zu reagieren.

Genau so funktioniert das mit Trend-Themen. Tausendemale schon gehört: »Also ich verstehe Facebook nicht! Was ist da so toll dran?« Fast immer Zustimmung und Gelächter im Publikum, obwohl die meisten selbst Facebook nutzen – oder gerade deswegen. Und trotzdem, auch so schafft man sofort eine emotionale Bindung und das Publikum hat das Gefühl sie werden nicht belehrt, es wird nicht doziert, nein, wir gehen gemeinsam auf eine Reise zum Thema Facebook oder digitale Welt.

Gute Redner und Comedians nutzen die gemeinschaftlichen Erfahrungen, die wir alle machen und haben, und geben uns als ZuhörerInnen das Gefühl, dass sie uns »aus der Seele sprechen«. Wer mit dem Publikum eine solche emotionale und scheinbar persönliche Verbindung schafft, wird als RednerIn und Comedian erfolgreich sein.